Dirk Nowitzkis Geschichte ist eine große Unwahrscheinlichkeit: Ein schmaler, schüchterner Junge aus Würzburg, der in Dallas, Texas, zum Superstar wird. 14-facher All Star, MVP und Finals MVP. 1667 absolvierte Spiele, Platz 6 in der ewigen Scoring-Liste. NBA-Champion 2011. Wertvollster Spieler bei Welt- und Europameisterschaften. Twyman-Stokes-Teammate of the Year. Fahnenträger bei Olympia. Es ist ein Fehler in der Vorsehung, dass ein schmaler, schüchterner Junge aus dem Fußballland Deutschland zu einer Legende einer ur-amerikanischen Sportart wird. Aus dem Würzburger Teenager, der sich getraut hat, in die Welt zu ziehen, ist der womöglich beste Europäer geworden, der jemals Basketball gespielt hat. Ein Vorbild für eine ganze Generation von europäischen NBA-Spielern, MVPs und zukünftigen MVPs, für die Jokićs, Antetokounmpos und Dončićs. Und irgendwie für uns alle. Und das ist das wirklich Besondere an Dirk Nowitzki: Er selbst würde all das niemals so formulieren. Selbstbegeisterung war nie sein Ding.
In seiner zweiten Heimat Dallas hat jeder eine rührende oder besondere oder komische Dirk-Story zu erzählen. 21 lange Jahre hat er für sein Team gespielt, sein Team, eine auf lange Jahre unerreichbare Zahl. Basketball ist in Dallas nicht ohne Dirk denkbar. Er ist Bürgermeister der Herzen, Inhaber des goldenen Schlüssels zur Stadt. Wenn man durch Downtown Dallas zum American Airlines Center fährt, um die Mavericks spielen zu sehen, biegt man ein in den Nowitzki Way, kommt vorbei an vorbei der überlebensgroßen Statue seines einzigartigen, präzisen Flamingo Fadeaways in weißer Bronze. Dallas ist für ihn längst mehr als nur ein Würzburg-Ersatz, die Stadt hat ihn in ihr Herz geschlossen. Er ist einer von ihnen. »Loyalty Never Fades Away« steht auf dem Sockel.
Dirk Nowitzkis Spiel hält dem immensen Sportwissen Amerikas stand – statistisch, historisch und kulturell. Er hat die Sportart, die er seit seiner Kindheit liebt, geprägt und verändert. Basketball nach Dirk ist anders als Basketball vor ihm: Er hat den Sport beweglicher gemacht, variabler, weniger vorhersehbar, raffinierter, anspruchsvoller. Internationaler, weltoffener. Er hat die Philosophie des Spiels verändert: wie man Basketball spielt, wie man Basketball denkt. Er hat uns allen und unserem Sport seinen Stempel aufgedrückt. Und jetzt ist er ein Hall of Famer. Nochmal: Dirk würde das nie so sagen, aber vielleicht denkt er manchmal an diese wichtigen Buchstaben hinter seinem Namen: Dirk Nowitzki, HoF. Es ist ihm zu wünschen, er hat sich diesen Moment redlich verdient.
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Ehe Dirk Nowitzki zu einem der besten Basketballer aller Zeiten wird, zu einer weltweiten Legende seiner Sportart gar, ist er ein ganz normaler Junge in Würzburg-Heidingsfeld. Seine Eltern Jörg und Helga haben einen Malereibetrieb. Jörg spricht mit den Kunden, Helga kümmert sich im Hintergrund um alles. Der Vater hat Humor, die Mutter hat alles im Blick. Die Nowitzkis sind sportlich: Dirks Vater spielt Handball, seine Mutter und seine Schwester sind Basketballerinnen, die Wochenenden verbringen sie alle im örtlichen Tennisclub. Dirk spielt alles, aber nichts richtig. Er kann sich bewegen, aber er weiß nicht wohin. In seinem Zimmer hängen Poster von Charles Barkley und Scottie Pippen, die Bulls sind sein Team. Er schaut Toni Kukoć zu. Detlef Schrempf. Arvydas Sabonis. Dražen Petrović. Die großen Europäer vor ihm. Dirk hat Träume, aber sie fühlen sich wie bloße Träume an.
An einem Sonntagnachmittag im April 1993 ändert sich alles. In einer Schulturnhalle trifft Dirk auf das verschrobene Universalgenie Holger Geschwindner – eine Begegnung, die für beide die Welt auf den Kopf stellt. Der Ältere war einmal der beste und unkonventionellste deutsche Basketballer, Generation Bill Bradley, jetzt ist er Ingenieur, Physiker, Philosoph und Pädagoge. Er hat schon fast alles gesehen, aber noch nie so jemanden wie Dirk Nowitzki. Der Junge hat das komplette Werkzeug. Alles, was man braucht. Geschwindner spürt sofort, dass der Junge mehr will, dass er die Grenzen der Sportart verschieben könnte.
»Junge«, sagt er. »Nummer vierzehn.«
Dirk sieht auf.
»Wie heißt du?«
»Dirk«, sagt Dirk. »Nowitzki.«
»Du machst viele Dinge richtig, die man net lernen kann«, sagt Geschwindner. »Wer bringt denn dir eigentlich die Sportart bei?«
So jedenfalls erinnern sie sich an den Anfang. Nach den ersten Trainingseinheiten mit Geschwindner wird Dirk klar, was er will: Werfen. Laufen. Passen. Wieder werfen. Dieses Gefühl, wenn der Ball durch das Netz rauscht, swish, im idealen Winkel, immer wieder. Der perfekte Wurf. Er liebt die Gelassenheit, die Freiheit, die er auf dem Platz spürt. Die volle Kontrolle über seine Fertigkeiten.
Beide ahnen, dass sie etwas Besonderes erreichen können. Sie entwickeln das nötige Selbstbewusstsein. Sie denken alles neu: Dirk läuft auf Händen durch die Halle, aber er lässt die Gewichte weg. Sie zählen ihre Würfe nicht in Zehnerpaketen, um sich vom Dezimaldenken zu lösen, von der prozentualen Aufteilung in gut und schlecht. Sie trainieren zu Jazz, um Takt und Improvisation zu lernen. Tak tadam. Sie stellen eine Trainingsgruppe zusammen, die Dirks Spiel komplementiert, Jungs aus der Gegend, Demond Greene, Robert Garrett, später den Hamburger Marvin Willoughby. Im Sommer rudern sie über den Starnberger See, im Winter gewinnen sie Spiele. Holger gibt Dirk Bücher, damit er weiter und größer denken lernt: Djamila von ChinghizAitmatov. Der Taifun von Joseph Conrad, Herz der Finsternis. Damit Dirk auf alles vorbereitet ist, was man sich vorstellen kann.
Sie bauen Dirks Wurfmechanik von Grund auf um. Holger nimmt Dirks Maße: Armlänge, Schuhgröße, Sprungkraft. Er berechnet Abwurfpunkte und Flugkurven. Sie malen die optimale Wurfkurve an die Wand der Halle, mit einem Besen zwingt Holger Dirk zu einer höheren Wurfkurve, damit der Einfallswinkel genau 47 Grad beträgt. Damit Dirk auch dann sehr wahrscheinlich trifft, wenn er Fehler macht. Der Korb wird ein See.
Die Jungs sind erfolgreich, sie verändern den deutschen Basketball von Grund auf: Offensive Feuerkraft, Intuition und Improvisation übertrumpfen den traditionellen europäischen Basketball der 1990er Jahre: das Defensive, Systematische, Rationale. Sie sind noch jung und machen Fehler, aber ihr Potenzial ist offensichtlich. Doch gerade als die Mannschaft kurz vor dem Aufstieg in die erste Bundesliga steht, muss Dirk die wichtigste Entscheidung seines jungen Lebens treffen.
George Raveling, der große Hall of Fame Coach und damals Direktor für Internationalen Basketball bei Nike, hat Geschwindner heimlich davon überzeugt, Dirk zum Hoop Summit 1997 nach San Antonio zu schicken. Dirk muss sich entscheiden: Wird er in Deutschland bleiben? Oder will er mehr? Er setzt sich ins Flugzeug und betritt zum ersten Mal die Stadt, die einmal sein Zuhause werden soll: Dallas, Texas. Als die internationale Auswahl im Baylor Tom-Landry-Center trainiert, weiß niemand, wie gut der schlaksige Junge aus Deutschland wirklich ist. Und wie gut er werden wird.
Niemand außer Donnie Nelson, der sich im internationalen Basketball gut auskennt und Assistant Coach der Mannschaft »Rest der Welt« ist, und seinem Vater Don, der gerade Head Coach der Mavericks geworden ist. Die Nelsons wissen bereits, dass sie Dirk wollen, ehe er am 29. März 1998 das Spielfeld des Freeman Coliseum in San Antonio betritt, 33 Punkte macht, sich 14 Rebounds angelt und den Sieg für das Team World holt. Sie wissen, dass sie die Zukunft des Spiels gesehen haben.
Dirk ist die Zukunft, aber seine erste Saison in der NBA ist nicht einfach: der Lockout, die unvorsichtigen Vorhersagen der Nelsons (»Er wird Rookie des Jahres!«), der ausbleibende Erfolg, gellende Pfiffe der Fans für Steve Nash und Dirk Nowitzki, die harte Landung in der besten Liga der Welt.
Im zweiten Jahr schlägt die Stimmung um. Mark Cuban übernimmt das Team und verändert die Kultur. Aus Michael Finley, Dirk Nowitzki und Steve Nash werden Filthy, Dirty & Nasty, die Dallas Big Three, drei Trainingsbesessene und beste Freunde. Dirk verdoppelt seine Punkt- und Reboundzahlen. Die Buhrufe schlagen in Anfeuerung um. Und dann in Euphorie.
Die Mavs gewinnen. Sie werden ein Playoff-Team und dann zum Titelanwärter. In seiner dritten Saison ist Dirk der Topscorer des Teams. Als Nash und Finley Dallas 2004 respektive 2005 verlassen, sind die Mavs plötzlich sein Team. Das Ende von Filthy, Dirty & Nasty ist eine geschäftliche Entscheidung. Dirk lernt, dass nichts selbstverständlich ist. Er arbeitet weiter, passt sich an und führt sein Team 2006 in die Finals gegen die Miami Heat, gegen Dwyane Wade und Shaquille O’Neal. Sie führen 2 zu 0, und im 4. Viertel von Spiel 3 liegen sie mit 13 Punkten vorn. Dirks Traum ist zum Greifen nah. Aber sie verlieren das Spiel – und auch die nächsten drei in Folge. Dirk ist am Boden zerstört.
In der folgenden Saison gewinnen die Mavericks 67 von 82 Spielen und gehen als Favorit in die Playoffs. Dirk macht alles: Er punktet, reboundet, passt. Er ist unglaublich effizient. Und vor allem: Basketball macht ihm wieder Spaß. Aber dann fliegen die haushohen Favoriten Mavericks in der ersten Runde gegen die Golden State Warriors raus. Coach Don Nelson ist inzwischen der Cheftrainer der Warriors, er kennt Dirk in und auswendig. Nach Spielende pfeffert Dirk vor lauter Enttäuschung einen Mülleimer gegen die Wand – das berühmte »Oakland Hole«, in 3 Metern Höhe, ein Beweis dafür, wie nah ihm das alles geht. Später wird er das Loch in der Wand signieren und als die Warriors 2022 aus der Oracle Arena ausziehen, nehmen sie das historische Stück Gipskarton mit (es hängt jetzt im Chase Center in San Francisco).
Was danach kommt, fühlt sich schlimmer an als das Erstrundenaus: Dirk wird MVP, wertvollster Spieler der Saison. In einem seiner größten persönlichen Momente trauert er. »Es war mir so peinlich«, wird er später sagen. Es spricht Bände, dass er die höchste individuelle Auszeichnung der Liga bis heute als den schwierigsten Tag seiner Karriere bezeichnet. Nur Teamerfolg ist echter Erfolg.
Aber Dirk Nowitzki wäre nicht Dirk, wenn er nicht einen Ausweg aus diesem Loch finden würde: Er fährt sechs Wochen mit Holger durch das australische Outback, um auf andere Gedanken zu kommen. Niemand kennt ihn hier. Er stellt seine Ernährung um, arbeitet noch akribischer, fokussierter. Die Niederlagen machen ihn zu etwas Besonderem: körperlich, taktisch und vor allem mental. Zu einem der Größten aller Zeiten. »Scheitern gibt es nicht«, wird der große Kobe Bryant später sagen; »Im Sport scheitert man nicht«, sagt Giannis Antetokounmpo; »Nochmal versuchen. Nochmal scheitern. Besser scheitern«, sagt Samuel Beckett.
Dirk und seine Mavs bekommen eine zweite Chance, aber 2011 sind sie ein anderes Team. Dirk ist fünf Jahre älter, fünf Jahre klüger und erfahrener. Er ist besser. An seiner Seite: Jason Terry, Jason Kidd, Tyson Chandler. Shawn Marion. J. J. Barea, Brian Cardinal, Peja Stojaković. Trainer Rick Carlisle. Ein gutes Team, ja, aber niemand würde Geld auf diese Mavericks setzen. »Zu alt für die langen, kräftezehrenden Playoffs «, heißt es. »Die haben ihre besten Zeiten hinter sich.«
Und dann geschieht Dirk. Seine Mavericks schlagen Portland in der ersten Runde, sweepen Kobe Bryants Lakers in der zweiten Runde und zermürben die jungen Oklahoma City Thunder in den Western Conference Finals – mit den jungen Durant, Harden und Westbrook. Dirk spielt die besten Playoffs seines Lebens. Nichts bringt ihn aus der Ruhe: kein Verteidiger, kein Punktestand, keine Verletzung, keine Krankheit. Er sieht das Spiel klarer als alle anderen. Er feiert nicht, als sie das Finale erreichen, und als er ein paar Tage später sieht, wie die Heat die Meisterschaft im Osten gewinnen, schaltet er einfach den Fernseher aus. »Miami«, sagt er. »Let’s go.« Er will keine Revanche. Er hat keine Angst, dass sich die Geschichte wiederholt.
Fünf Jahre nach seiner ersten Finalserie steht Dirk wieder da, wo er schon einmal stand: im Finale gegen die Miami Heat, jetzt mit LeBron James und Chris Bosh. Und immer noch mit Dwyane Wade. Er kann den Titel gewinnen. Es ist Dirks Team, aber vor allem: es ist ein Team.
Im zweiten Spiel der Serie passiert der vielleicht beeindruckendste Moment in Dirks Karriere: Miami führt 1-0, und in Spiel 2 liegen die Mavericks 7:14 Minuten vor Schluss mit 88:73 zurück. 15 Punkte. Doch Dirk weigert sich, noch einmal zu verlieren. Bei jeder Possession, die jetzt folgt, punktet er oder gibt einen Assist. Ein paar Minuten später gleicht er das Spiel zum 90:90 aus. Time Out.
Schaut man Dirk in diesem Moment in die Augen, hat man den Eindruck, dass er tatsächlich weiß, was passieren wird. »Die Vergangenheit der Zukunft« nennt Geschwindner diese Erfahrung, wenn die Zeit nicht mehr chronologisch ist, wenn sie einfach ist. An diesem Gedanken haben sie gearbeitet. Es ist, als hätte Dirk nicht den Hauch eines Zweifels, nicht einen Schimmer von Skepsis. In diesem Moment sieht Dirk nichts, was ihm in die Quere kommen könnte.
Die ganz in Weiß gekleideten Zuschauer schreien, als die Teams aus der Auszeit kommen, aber diese Schreie interessieren Dirk Nowitzki nicht. Die Heat zeichnen einen Spielzug auf, aber sie verpassen den Dreier; Dirk holt sich den Rebound; Kidd treibt den Ball über den Platz und passt ihn zu Terry auf der linken Seite. Terry zieht in die Mitte, während Tyson Chandler einen harten Block gegen Dirks Verteidiger Chris Bosh stellt. Chandler weiß, was er tut; kein Schiedsrichter pfeift dieses Foul, wenn er einen halbwegs sauberen Block stellt. Bosh kommt nicht an ihm vorbei. Dirk hat den freien Dreier.
Dieser Schuss ist der wohl wichtigste seiner Karriere.
Er trifft: 93:90. »Das ist schöner Basketball«, begeistert sich Jeff van Gundy im Fernsehen. Das Spiel endet 95:93. Die Mavericks gewinnen die Serie und damit die Meisterschaft. Dirk hat es geschafft. Er hat gesiegt.
Nach 2011 kehren die Mavericks noch ein paar Mal in die Playoffs zurück, aber nicht mehr in die Finals. Die Leute reden über Dirks Loyalität. Über das Geld, auf das er verzichtet, damit die Mavs ein anständiges Team aufbieten können. Über deine Meilensteine, den 30.000sten Punkt. Über seine Abschiedstournee – eine Tournee, die nie offiziell stattfindet, sondern sich einfach organisch entwickelt. Sein letztes Heimspiel, als plötzlich Larry Bird und Charles Barkley und Scottie Pippen und Detlef Schrempf in der Halle stehen. Aus Liebe und Respekt vor einem Spieler, der das Basketballspiel genauso liebt wie sie selbst. Ein Spieler, der das Spiel und seine Kultur verändert und geprägt hat. Einer, der seine Vorgänger genauso bewundert wie die Nachfolger, die in seine Fußstapfen treten werden. Ein bescheidener, liebenswürdiger Mensch. »Dirk Nowitzki ist wie wir«, schrieb ich damals. »Nur viel, viel besser.«
Und jetzt ist er ein Hall of Famer.