Denke ich an New York, ist der Himmel immer klar und blau. Jede Stadt hat ihr Wetter, ihre Temperatur und ein Licht, das ihrem Wesen entspricht. In New York ist das der späte Sommer und der frühe Herbst, im September und Oktober, kurz bevor die Blätter fallen. Dann bekommt das Wetter in New York eine berückende Klarheit, frei und offen, als wäre die Stadt wirklich der Mittelpunkt der Welt. Piloten nennen dieses Wetter severe clear.
Heute morgen allerdings ist die Stadt in dicken Nebel gehüllt. Es ist Zeit für einen Museumsbesuch, den ich lange vor mir hergeschoben habe: im National September 11 Memorial Museum. Langsam spaziere ich aus SoHo Richtung Süden, dorthin, wo einmal die beiden Türme des alten World Trade Center gestanden haben.
New York ist eine Stadt der Schichten. Ich laufe über altes Kopfsteinpflaster, glitschig und provisorisch geflickt mit Asphalt, vorbei an Coffeeshops und Boutiquen, darüber Backsteinwände mit längst verblassten Firmennamen, dahinter die Glasfassaden neuer Bürogebäude. Riesige Baustellen voll gelber Isolierwolle. New York ist ein immerwährendes Unter-, Über-, Nebeneinander, New York ist alles zugleich, Planung und Patina, Präsens und Plusquamperfekt.
Die Zwillingstürme des World Trade Center thronten jahrzehntelang über allem: Sie waren von überall sichtbar, auf allen Postkarten, in allen Filmen, auf den Titelseiten des New Yorker und auf jedem zweiten Touristenfoto. Sie dienten Ortsfremden zur Orientierung, für New Yorker waren sie abwechselnd Hassobjekt und stolzes Symbol. Ursprünglich war das World Trade Center einmal als Instrument zur Sicherung des Weltfriedens konzipiert worden, sieben Gebäude als Symbole für durchlässigen Handel für alle Länder und alle Menschen: Kapitalismus zur Rettung der Welt. Was es dann geworden war: ein sehr großer Bürokomplex mit irrem Aufzugssystem, 43.600 schmalen Fenstern in den Zwillingstürmen, eigener Subway-Haltestelle, einer Plaza wie aus einem Architekturmodell, auf der Unternehmensberater mittags ihren Salat aus Plastikboxen gabelten. Aber eben auch: das höchste Gebäude der westlichen Hemisphäre, das wichtigste Symbol der amerikanischen Dominanz im Welthandel und Magnet für die Zerstörungswut seiner Gegner. Die Türme waren New York.
Ich erinnere mich gut an ein Abendessen im Panoramarestaurant “Windows on the World” im 107. Stock, wir hatten unser spärliches Wochengehalt in diesen Abend gesteckt, zu viele Tanqueray Tonics getrunken, die Sonne hinter New Jersey versinken sehen und uns eigentümlich frei gefühlt. Severe clear. So, als könnten wir alles erreichen.
Warum ich das erzähle? Weil sich alle an den 11. September 2001 erinnern können, egal wo wir damals waren. Weil es ein New York davor und ein New York danach gibt. Weil das Wesen der Stadt zu großen Teilen aus diesem Ereignis und den Erinnerungen daran besteht. Weil auch die distanziertesten Beobachter im Laufe der Jahre zu Betroffenen wurden. Weil dieser Tag unzählige Menschenleben verändert hat. Unsere ganze Welt oder das, was wir dafür hielten.
Severe Clear, zwanzig Jahre später.
Hier kommt meine Erinnerung: Am 11. September 2001 stand ich in einem winzigen Supermarkt am Irving Place und kaufte eine Birne, Sorte Williams. Die Quittung sagt 8:23 Uhr. Ich war 26 Jahre und arbeitete für eine Literaturagentur in der Nähe des Union Square. Es war ein knallblauer Morgen, ich war früh dran, am Himmel zickzackten Flugzeuge aller drei großen New Yorker Flughäfen. Am Gramercy Park setzte ich mich auf eine Parkbank, las ein paar Seiten in David Bermans großartigem Gedichtband “Actual Air” und – so kitschig das klingt – freute mich des Lebens. New York! Spätsommer! Gedichte!
Als ich im Büro ankam, standen alle am winzigen Fenster der Poststelle und starrten nach Süden. Aus dem Nordturm des World Trade Center drang eine dicke Rauchwolke, wir konnten die Sirenen von der Straße hören. Eine Cessna sei es gewesen, sagte jemand, und was für ein Vollidiot der Pilot gewesen sein müsse, die Türme seien ja wirklich weithin sichtbar. Hoffentlich seien durch diesen Trottel nicht zu viele Menschen gestorben. Es sei ja noch früh und die Büros eventuell noch nicht voll besetzt. Als das zweite Flugzeug in das Südgebäude flog, spekulierte niemand mehr. Die Flammen leckten jetzt sichtbar am Turm, die Rauchwolken waren satt und dunkel und böse. Uns dämmerte, dass das kein Zufall sein konnte. Und keine Cessna.
Als der Südturm einstürzte, brachen ein paar von uns in Tränen aus. Andere klebten die Fenster mit Paketband ab, weil auf einer Nachrichtenseite die Rede von chemischen Kampfstoffen war. Das Internet war überlastet, niemand wusste, was geschah. Wir versuchten, mit unseren Familien zu sprechen, aber erreichten nur Anrufbeantworter. Als der Nordturm fiel, schrieb ich eine Abschiedsnachricht an meine Frau und meine Eltern. Wir rechneten mit dem Ende der Welt.
Die Stadt hielt die Luft an. Keine Bahnen fuhren, keine Busse, keine Autos. Der Himmel war immer noch knallblau, aber die Flugzeuge waren verschwunden. Ein schweigender Trauermarsch zog zurück über die Brücken nach Brooklyn. Die Menschen zuckten zusammen, wenn über unseren Köpfen Tauben flatterten. Man rechnete immer noch mit dem Schlimmsten, aber man wusste nicht, was das Schlimmste sein würde.
In den Tagen danach überlegten fast alle, die Stadt für immer zu verlassen, aber die meisten blieben. Wir saßen auf den Dächern der Häuser am Fluss, tranken Dosenbier, starrten verwirrt auf die Rauchwolke über Manhattan. Wir ahnten, dass es die Welt, wie wir sie bisher kannten, nicht mehr geben würde. Ich kann mich bis heute an kleinste Details dieser Tage erinnern, an ein lilafarbenes T-Shirt, an das Etikett einer Flasche Red Stripe, an Seths Frisur und meine Zahnschmerzen, an den Blick vom Dach unseres Hauses und die Rauchwolke. Die Fernsehbilder in Endlosschleife. Noch heute texte ich an jedem 11. September mit den Menschen, die damals dabei waren: Mark, Kika, Erin. Wir reden kurz über jene Tage, an denen sich unsere Welt verformte, an denen wir ein klein wenig ernster wurden, unsicherer, schuldbewusster vielleicht, erwachsener. Wir alle wissen genau, wie es war, obwohl wir nur am Rand gestanden haben.
In der Psychologie nennt man dieses Phänomen “Flashbulb Memories”: emotionale, detailreiche Erinnerungen an Weltereignisse, die immer wieder aus den Tiefen des Gedächtnisses hervorgeholt werden. Gewollt oder ungewollt. Erinnerungen, die lebhafter werden, je öfter man sich erinnert, je häufiger man von ihnen erzählt. Die Ermordung Martin Luther Kings. Das Attentat auf John F. Kennedy. Die Anschläge des 11. September soll ein Drittel der gesamten Weltbevölkerung live wahrgenommen haben. Zwei Milliarden Menschen, die zusahen und wussten, dass etwas Weltveränderndes geschah.
Darüber denke ich nach, als ich Ground Zero erreiche: Kann ein Museum einem solchen Weltereignis überhaupt gerecht werden? Wo die beiden Türme standen, befinden sich jetzt zwei gigantische, maßgenaue Fußabdrücke. In die zwei riesigen Becken stürzen die größten von Menschen gemachten Wasserfälle Nordamerikas, schlicht und eindrücklich, ihr Rauschen verschluckt den Lärm New Yorks. Ringsherum sind Bäume gepflanzt worden, sie wachsen in aller Ruhe und Kraft. Die Stadt, die kracht und lärmt und niemals schläft, ist hier konzentriert und leise. Man kann sich kaum eine eindrücklichere Art der Denkmalwerdung vorstellen.
Auf die Brüstung um die Becken sind die Namen sämtlicher Todesopfer der Anschläge des 11. September geschrieben, ein Mädchen, vielleicht sieben Jahre alt, liest langsam einen nach dem anderen vor: “Robert G. LeBlanc”, liest sie, “Lisa Frost, Maclovio Lopez Jr., Juliana Valentine McCourt.” Die Umstehenden hören zu, sie warten auf den nächsten Namen, aber dann wird das Kind von seinem Vater ermahnt. “Sei leise”, zischt er. “An diesem Ort zeigt man Respekt!”
Das Museum selbst ist gegenüber der schlichten Wucht dieses Memorials fast unscheinbar. Denkt man zumindest, wenn man vor dem gläsernen Pavillon steht. Kleiner als das Metropolitan Museum, nicht so spektakulär wie das Guggenheim, keine Institution wie das Museum of Natural History. Während ich zwischen den anderen Touristen durch die Sicherheitskontrolle geschleust werde, rechne ich mit oberflächlichen Heldengeschichten und amerikanischen Flaggen.
Das 9/11 Memorial mit seinen Wasserfall-Becken wurde am zehnten Jahrestag der Zerstörung des World Trade Center eröffnet, das Museum folgte knappe drei Jahre später nach einer kontroversen Bauphase, in der sich Stadt und Betreiberstiftung über Finanzierung und Ausrichtung der Gedenkstätte stritten. Das Architekturbüro Snøhetta entwickelte den oberirdischen Pavillon, der an ein gefallenes Gebäude gemahnen soll. Architekten von Davis Brody Bond entwarfen das unterirdische Museum, das die Besucher bis auf das tiefste Fundament des ehemaligen World Trade Center führt.
Sobald man jedoch die Eingangshalle betritt, wird einem schnell klar, dass es sich bei diesem Museum nicht um amerikanischen Firlefanz handelt, sondern um eine internationale Gedenkstätte, die sich einem Weltphänomen widmet. Angehörige von 93 Staaten kamen am 11. September ums Leben, die 93 Flaggen ihrer Heimatländer hängen über den Köpfen der Besucher. Gleich vis-à-vis: zwei der berühmten stählernen Gabelstücke, die das Erscheinungsbild des WTC prägten, riesig und rostig vor einer Glasfront, die den Blick auf den neuen Daniel-Libeskind-Turm auf der anderen Seite der Plaza freigibt.
In den Bauch des Museums führt eine dunkle Edelholzrampe. Sie ist uneben, einem Zufahrtsweg für Räumfahrzeuge ähnlich. Unsicher läuft man vorbei an einem letzten Bild der intakten Türme, aufgenommen von Brooklyn aus, um genau 8.45 Uhr. Dann folgt eine Audiocollage erschrockener Stimmen, ein Sprachgewirr, dann Bilder von schockierten Gesichtern, und gerade als man sich fragt, ob es das bereits gewesen sein könnte, öffnet sich der Raum: Unter uns liegt Ground Zero.
Es ist, als wäre man im Innern der Erde angekommen. Links wird die sogenannte Foundation Hall begrenzt von einem unterirdischen Wall, der das Wasser des Hudson River immer noch aus dem Fundament hält, rechts glitzert riesig und hell die aluminierte Außenseite des Memorial-Beckens. Es ist eigentümlich still. Die Rampe führt am Rand der Ausgrabungshalle hinunter zur letzten übrig gebliebenen Säule der einstmals gigantischen Gebäude. Wo früher einmal Parkdecks, Geschäfte, Restaurants waren, wo Aufzüge und Züge fuhren, sind jetzt nur noch Rost und Stahl und Stein. Man spürt die Abwesenheit. Man ahnt Knochen und Tränen und Schmerz.
Das Museum überwältigt seine Besucher. Zunächst erzählen noch große und intellektuell irgendwie fassbare Artefakte von der Zerstörung der Gebäude. Man starrt auf ein zehn Meter hohes Stück Stahl aus dem Nordturm, von Wucht und brennendem Kerosin des ersten Flugzeugs krumm gebogen. Einen Leiterwagen der Wache 3, die Frontseite förmlich püriert von heißen Trümmern. Der staubige Helm von Captain Paddy Brown. Ein riesiges Stück der Antenne des Nordturms, die um 10.28 Uhr aufhörte zu senden.
Nun geht das Museum mit uns Besuchern ins Detail, langsam bewegen wir uns die Zeitleiste der Zerstörung entlang. Zunächst betrachten wir die Artefakte des Alltags: Zugfahrkarten, Tageszeitungen, Tickets für das Spiel der Yankees gegen die Chicago White Sox. Den Tagesplan des damaligen Bürgermeisters Giuliani. Dann hören wir die Telefonanrufe aus den gekaperten Flugzeugen, Abschiedsnachrichten auf Anrufbeantwortern, die Panik in den Stimmen, die Verzweiflung der toten Leitungen. Wir hören die ersten Radiomeldungen. Wir stehen in abgedunkelten Räumen, damit man unsere Tränen nicht sieht.
Aus viel wird zu viel, die Alltagsgegenstände werden Reste verschwundener Leben. Schuhe sind verstaubt, Brillen zerbrochen, T-Shirts zerrissen, Flaggen versengt. Wir sehen Fotos von fallenden Menschen, Büropapier wie Herbstlaub, Trümmer und die giftige Staubwolke, die durch eben jene Straßen walzt, durch die wir heute morgen hierherspaziert sind. Feuerwehräxte, blutige Handschuhe, später die Suchanzeigen an den Laternen. Es sind Bilder und Dinge, die wir kennen. Ganze Kleiderständer verstaubter Oberhemden, Blumen vor den Feuerwehrstationen, Notizblöcke, Einstecktücher, Kinderbilder, defekte Taschenrechner, ausgelaufene Batterien.
Sogar die Astronauten der ISS haben den Moment der Zerstörung fotografiert, wir sehen von oben auf den Wandel der Welt. Jeder noch so winzige Gegenstand hat seine Geschichte, und die schiere Menge ist erdrückend. Jetzt ist die Ausstellung überwältigend, sie überfordert mit voller Absicht, sie hört einfach nicht auf. Man würde gern gehen, aber man bleibt und begreift: Wo andere historische Museen das Vergangene bewahren wollen, wird hier das Vergehen und Verschwinden ausgestellt.
Das National September 11 Memorial Museum hat tausend Funktionen: Man kann sich über die Türme, ihren Bau und ihre Bedeutung informieren. Man kann sie kulturell, politisch und ökonomisch verstehen. Man kann versuchen, die Logik ihrer Zerstörung nachzuvollziehen, ihre perfide akribische Logistik. Man kann sich von der Tragweite der Ereignisse übermannen lassen. Man kann sich in den Details verlieren. Man kann der Toten gedenken.
In der Memorial Hall herrscht Stille. Der separat gehaltene Museumsteil ist ein Schrein für die Verstorbenen. Man betritt eine quadratische Halle, die vom Boden bis zur Decke behängt ist mit Porträts: lachende Gesichter, Passfotos, Bewerbungsbilder. Namen über Namen. Daniel van Laere. Brenda E. Conway. Howard Kirschbaum. An Computerterminals kann man ihre Lebensläufe aufrufen, ihre Geburtsdaten. Nur der Todestag ist immer gleich. Man kann kurze Filme und Diashows abspielen, die in einem abgedunkelten Raum in der Mitte der Halle projiziert werden.
Eine Jukebox der Vergänglichkeit, kaum zu ertragen, kaum zu begreifen, nicht auszuschalten. Als das Haus schließt und wir zum Ausgang gebeten werden, bleibe ich noch kurz vor einem Kunstwerk stehen. Der Künstler Spencer Finch hat an einer riesigen Wand für jeden einzelnen Toten eine Pappkachel aufgehängt. In allen wasserfarbigen Schattierungen von Blau, jedes einzelne Leben mit seinem eigenen Ton. “Trying To Remember the Color of the Sky on That September Morning” heißt das monumentale und gleichzeitig sehr persönliche Werk, und mir wird klar, dass es das ist, was dem Museum so irrsinnig gut gelingt: Man versucht, sich zu erinnern. Teilzuhaben an den Erinnerungen der anderen. Zu begreifen. Das Blau. Den Tag. Das Vorher und das Nachher, das Damals und das Jetzt.
Draußen an den riesigen Becken, wo einmal die Türme standen, liest ein kleiner Junge die Namen auf der Brüstung vor, einen nach dem anderen. Niemand ermahnt ihn, die Namen stehen dort, um genannt zu werden. Man blinzelt in die Sonne, der Himmel ist jetzt klar und blau. Severe clear. Man sieht die Welt mit anderen Augen. Mehr kann ein Museum kaum erreichen.
© MERIAN 2018 & © ZEIT 2018