Mit dem, was am 28. Mai 1997 in Hagen in Westfalen geschah, ist es wie mit einem alten Kinderfoto. Obwohl ich dabei gewesen bin, kann ich mich nicht erinnern. Aber ich weiß, dass die Dinge geschehen sind.
Es gibt ein frühes Kinderbild aus den Siebzigern, das mich als Dreijährigen in einer karierten Hose auf einem Osterspaziergang am Ufer der Ruhr zeigt, einen winzigen Korb in der einen Hand, einen Ball in der anderen. Hunderte Male habe ich mir dieses Bild angesehen, solange, bis ich mich tatsächlich an diesen Spaziergang zu erinnern glaubte, an jedes Detail, an den Geruch der Sonne auf dem Waldweg, das übriggebliebene Laub vom letzten Sommer, an das Gefühl des Fliegens, als mein Vater mich in die Luft warf und wieder auffing. Den Geschmack der günstigen Schokoladeneier. Das Glück beim Suchen und Finden. Und so weiter. Ich habe meinen Vater Jahre später einmal danach gefragt: Er konnte sich nicht erinnern. Aber ich. Ich habe diese Erinnerung erfunden. Sie ist eine meiner liebsten.
Hagen ist eine schrumpfende Stadt am Rand des Ruhrgebiets. In den frühen Siebzigerjahren haben hier einmal 230.000 Menschen gelebt, aber seit die Eisenhütten zu sind, werden es weniger und weniger. 1997 waren nur noch 210.000 übrig, seitdem sind weitere 30.000 verschwunden. Ich bin in Hagen aufgewachsen, aber wohne auch schon seit Ewigkeiten nicht mehr in der Stadt. Die Zugtrasse von Berlin nach Köln führt durch Hagen, und wenn Freunde und Bekannte für zwei Minuten am Hagener Bahnhof halten, schreiben sie mir manchmal Schmähnachrichten: „Hagen – Wo der ICE die Trittstufe nicht ausfahren kann“ oder „Am Hagener Hauptbahnhof gibt es einen Imbiss namens Syphilis-Grill – Alter!“
Hagen ist eigentlich wunderschön gelegen, es gibt hohe Hügel und tiefe Täler, vier Flüsse und ein paar Seen. Auf den Bergen ringsherum liegt echte Natur, es gibt Wiesen und Misch- und Tannenwald, frische Luft und kilometerweite Ausblicke. Kühe und Rehe. Warstein und Krombach und Grevenstein sind nicht weit. Das alles ahnt man allerdings nicht, wenn man Hagen nur vom Zug aus betrachtet. Wie in den meisten Ruhrgebietsstädten ist die Bahnhofsgegend eine Katastrophe, und die Innenstadt erst recht. Der Einzelhandel hat sich längst verzogen, heute gibt es hauptsächlich Ketten und Konzernläden. Die Kulturlandschaft schrumpft, ein paar Kneipen sind geblieben. Es gibt Imbissbuden, ein einziges gutes Kino und ein Theater, das ständig am finanziellen Abgrund entlanginszeniert. In Hagen interessiert man sich für Basketball und Fußball. Es gibt gute Leute hier. Das Bier trinkt man aus kleinen Gläsern. Oder kistenweise.
Durch das Ruhrgebiet ging immer schon ein Riss. Das hat mit dem Fußball zu tun. Dortmund oder Schalke. Entweder oder. Man ist das eine oder das andere. Schwarzgelb oder blauweiß. Zecke oder Trottel. Lüdenscheid Süd oder Herne West. Beide Stadien sind keine halbe Autostunde von Hagen entfernt, das Westfalenstadion, das heute Signal Iduna Park heißt, ist das beste Stadion der Welt. Als Jugendliche sind wir manchmal mit dem Fahrrad über den Berg zu den Spielen gefahren, keine fünfzehn Kilometer, mein erstes Spiel war Borussia Dortmund gegen Borussia Mönchengladbach. Später dann saßen wir in den überfüllten Regionalzügen und S-Bahnen, in den Gesängen und Schubsereien, eine Dose Bier auf der Faust. Bei Derbys kam es regelmäßig zu ernsthaften Entzweiungen von Freunden, Geschwistern, Ehepaaren. Meinen schwarzgelben Schal habe ich immer noch, und auf meinem Telefon gibt es eine App, die mir an jedem Ort der Welt anzeigt, wie weit ich vom Stadion des BVB entfernt bin.
Im Mai 1997 war ich zufällig für ein paar Tage auf Heimaturlaub in Hagen. Es war ein seltsamer Monat für die Stadt und uns. Am 21. Mai 1997 gewann Schalke den Europapokal gegen Inter Mailand, nach Elfmeterschießen. Die Schalker Mannschaft war eine Ansammlung von Raubeinen und Trickstern, die sich irgendwie ins Finale durchgebissen hatte: Die Eurofighter. Huub Stevens war der Trainer, Jens Lehmann der Torwart, Olaf Thon spielte im defensiven Mittelfeld. Yuri Moulder. Ingo Anderbrügge. Das Spiel fand in Mailand statt, wir hörten im Autoradio von Tobi Schnettlers rotem Golf dabei zu, wie Marc Wilmots den letzten Elfer reinmachte. „Das Kampfschwein“. Mein Cousin Andi war am Start, Jens und Tobi und Bine und ich. Ich muss zugeben, dass wir uns über den Schalker Sieg freuten.
Die Gefühlslage der Stadt war während der nächsten Tage anders als sonst. Es fiel den Dortmundern leichter, sich zu überwinden und den Schalkern zu gratulieren, und die Schalker nahmen diese Glückwünsche irgendwie weniger verzweifelt an. Die letzten Monate war es 1997 im Ruhrgebiet um andere Dinge als um Fußball gegangen: um die Streichung der Kohlesubventionen, den endgültig unabwendbaren Niedergang des Bergbaus und prognostizierte Arbeitslosenzahlen. Das Schrumpfen der Kommunen. Helmut Kohls Versprechen. Aber plötzlich ging es wieder um Sport. Das Ruhrgebiet fühlte sich an wie ein etwas groß geratenes gallisches Dorf, und um uns herum lagerten die Römer. Oder Mailänder. Oder Turiner. Die Ahnung kam auf, dass wir einen großen und guten und historischen Moment erleben würden. Irgendwie war dieser Mai wärmer, irgendwie schienen Stadt und Land weniger kaputt als sie tatsächlich waren.
Meine jetzige Frau war damals noch meine Freundin. Wir kannten uns schon eine Weile. Sie ist zwar auch in Hagen aufgewachsen, aber eigentlich stammte ihre Familie aus Hamburg, sie selbst ist in Hannover geboren. Ihre beiden Schwestern und sie waren damals – und sind es heute immer noch – drei irrsinnig leuchtende Grazien, irgendwie unerreichbar, aus dem besten Viertel hoch oben über der Stadt. Ich hatte immer das Gefühl, dass sie nicht richtig nach Hagen passte, dass die Stadt zu roh und traurig für sie war. In meine Sprache schleicht sich heute noch das westfälische I, sie sprach schon immer akzentfreies Hochdeutsch. Ich hörte Grunge-Musik und spielte Basketball, sie war im Tennisclub und spielte Klavier. Ich: Campingurlaub an der Nordsee, sie: Sommer in Rom. Ich: Büchsenbier im Park, sie: Bach in der Konzerthalle.
Das Spiel meines Lebens sehen wir im Partykeller von Axel Hefers Eltern. Es ist der 28. Mai 1997. Der BVB spielt gegen Juventus Turin. Niemand hat Tickets für das Stadion bekommen. Wir sind zehn, fünfzehn Leute, Blaue und Gelbe gucken gemeinsam, was sonst nie vorkommt. Bis vor ein paar Tagen wäre das alles noch völlig undenkbar gewesen. Zwei Frauen haben sich die Gesichter blau und gelb geschminkt. In meiner Erinnerung sind alle wichtigen Leute da: Andreas Hübner, Jens Pfeifer, Tobias Schnettler. Wir sind Studenten und tragen Trikots oder Kurt-Cobain-Strickjacken, die meisten haben lange Haare. Meine damalige Freundin, die später meine Frau werden wird, ist jedenfalls nicht bemalt oder geschmückt, das hat sie nicht nötig, in meiner Erinnerung trägt sie eine irgendwie zitronig-hanseatische Bluse. Das reicht völlig, um die schönste Frau in Axel Hefers Partykeller zu sein. Wir haben waghalsige Mengen Bier angeschleppt, auf der Terrasse wird gegrillt, es gibt gelben Senf zu verbrannten Würstchen, der Himmel ist blau.
An die erste Halbzeit erinnere ich mich noch halbwegs gut. Das 1:0 von Karl-Heinz Riedle mit links, das 2:0 nach Ecke von Andreas Möller auf Riedles Kopf. In der Halbzeit trinken wir aus reiner Vorfreude um die Wette, viel zu viel und viel zu schnell. Das Anschlusstor zum 2:1 durch Alessandro Del Piero ist schon leicht verwackelt, aber ich erinnere mich an eine plötzliche und diffuse Angst. Angst davor, dass das alles schlimm ausgehen wird. Dass ich die Kontrolle aus der Hand gegeben habe. Dass der Abend nach einem 2:0 noch in einer Katastrophe enden wird. Die Schalker haben bereits gewonnen, wir werden uns jahrelang ihren Spott anhören müssen. Angst davor, dass dieser Abend meiner Freundin nicht gefallen wird, dass ihr unsere Brüllerei und Sauferei missfallen, und dass sie nach Hamburg verschwinden wird, um nie wieder zurückzukehren. Irgendwie auch, dass der Ruhrpott nach dieser einen Woche im Frühjahr endgültig hinüber sein wird, eine Art luzider Vorsterbezustand, eine Klarheit vor dem Tod. Sogar eine magisch gedachte und völlig egomanische Angst: Dass ich an der Niederlage Schuld tragen könnte, dass ich etwas falsch gemacht habe. Zum Beispiel: ein Bier zuviel getrunken. Von der falschen Marke. Dass ich den falschen Leuten zugeprostet habe, nicht intensiv genug gehofft, nicht heftig genug geliebt und geglaubt. Eine gewisse Scham, dass ich nicht mehr gerade gucken und reden kann. Meine einzige verschwiemelte Erinnerung an die zweite Halbzeit ist ein sehr, sehr lauter Lärm im Hintergrund, während ich auf hellblaue Badezimmerfliesen starre. Oder waren sie gelb?
Zurück zum Kinderbild. Hier kommt, was ich zu meiner Erinnerung gemacht habe: Wie Lars Ricken an der Seitenlinie steht und auf seine Einwechslung wartet, das Trikot anderthalb Nummern zu groß und zu plusterig für den schmalen Siebzehnjährigen, der er ist. Wie dann Stéphane Chapuisat, der blasse, rotwangige Schweizer, diese Unwahrscheinlichkeit im Ruhrgebiet, langsam zur Seitenlinie trabt, Nummer 18 für Nummer 9, und wie sich die Hände der beiden nicht nur kurz berühren, sondern wie sie sich kurz festhalten, Vater-und-Sohn-haft, eine kurze Übertragung von Kraft. Wie Ricken dann auf das Spielfeld sprintet, achtzehn Schritte, bis er die Platzmitte erreicht, wie es auf der anderen Seite des Platzes zu einem namenlosen Kopfballduell und einer Balleroberung kommt, wie dann Andreas Möller einen Pass abfeuert, wie ein Quarterback einen Pass auf den sprintenden Receiver abfeuert, und wie Ricken losläuft.
Meine Erinnerung wird von Marcel Reif kommentiert, der weiß, dass jetzt eine Entscheidung naht. Der Ball fliegt und fliegt, Ricken rennt und rennt, Reif ahnt und ahnt. „Ricken“, sagt er mehr zu sich selbst als zu uns, und Ricken hört mit und rennt. Der Ball fliegt ein paar endlose Sekunden, in denen Reif etwas lauter und hektischer noch einmal „Ricken!“ ruft, und als Ricken den Ball fast erreicht hat, empfiehlt Reif, was der Junge jetzt am besten machen solle: „Lupfen jetzt!“ Und Ricken lupft bei seiner ersten Ballberührung den Ball aus vollem Lauf erstaunlich sanft und präzise und wunderschön oben rechts in den Winkel. Der Torwart ist von so viel Schnelligkeit und Plötzlichkeit völlig überrumpelt und steht einfach nur konsterniert und viel zu weit vor seinem Tor. 3:1. Reif brüllt „Jaaaaaa!“, und „Fünf Sekunden auf dem Platz“ und als Ricken dann über die Bande hüpft, scheint er fassungslos. „Fünf Sekunden!“, sagt er. Das Stadion fällt auseinander vor Jubel. Das wird es gewesen sein, was ich im Badezimmer gehört habe.
Woran ich mich sehr genau erinnere: Dass ich auf einer Parkbank in einer Kleingartenanlage oberhalb der Stadt saß, unter mir leuchteten die spärlichen Lichter meiner Stadt. Hagen City Lights. Nach Abpfiff müssen wir den Partykeller verlassen haben und siegestrunken und singend durch das Wohngebiet getaumelt sein. Mir war kotzübel. Ich verbarg mein Gesicht in den Händen und hoffte, dass das alles so schnell wie möglich vorbeigehen würde. Ich war mir ungeheuer peinlich und vollkommen sicher, dass auch meine Freundin das so sehen würde. Von irgendwo hörte ich das Gelächter der anderen und kam mir verspottet vor. Ich wusste nicht, wer gewonnen hatte, ich fühlte mich wie ein haushoher Verlierer. Alles würde enden: der Sommer, ehe er richtig begonnen hatte, das Ruhrgebiet, die Liebe. Aber dann merkte ich, wie mir jemand die Haare aus dem Gesicht hielt, sanft, aber bestimmt, mit einer pragmatischen Fürsorglichkeit, die man sonst nur von Ärzten und Müttern und Sterneköchen erwartet. „Wie ist es ausgegangen?“, fragte ich und wischte mir mit dem Ärmel über den Mund. „Wer hat gewonnen?“ – „Wir“, flüsterte die Frau, die ich später heiraten würde. Dann stand sie auf und ging zurück zu den anderen. Sie lachte. „Ruhrpott!“, rief sie im Gehen, „Ruhrpott!“
Aus: “Das Spiel meines Lebens“. Rowohlt, 2017.